Dienstag, 20. Mai 2008

Where have all the speakers gone...?

"Der Spiegel" hat also den Rückzug der Rhetoriker ausgerufen. Was "der Spiegel" allerdings dabei beobachtet, ist schlicht und einfach ein Stilwechsel.

Jedes Jahrzehnt hat seinen eigenen Stil, seine eigene "Grundtonart", was die politische Rede angeht. Manche Jahrzehnte geben sich kämpferisch, andere eher nüchtern-sachlich. Manche Stiltrends setzen sich durch oder verstärken sich teilweise geradezu selbst, andere dagegen führen quasi zu ihrer eigenen Abschaffung. Stile stabilisieren sich, wenn eine große Anzahl an Akteuren davon ausgeht, dass eine ganz bestimmte Stilausprägung "normal" ist und "erwartet" wird, und daher die Notwendigkeit sieht, die eigenen Reden an dieser Stilart auszurichten.

Eines der obersten Gebote der Rhetorik lautet, dass man sich immer die Frage nach der Angemessenheit seiner Rede bzw. seines Textes stellen sollte - auch und gerade in puncto Redestil. Wer beispielsweise gezielt provozieren oder ein bestimmtes "unangepasstes" Image pflegen möchte, kann über gezielt "unangemessenen" Stil nachdenken. Wer ein Retro-Image pflegen möchte, kann natürlich darüber nachdenken, seine Rede im Stil vergangener Jahrzehnte zu halten. Ein Politiker der heute noch eine Bundestagsrede im Stile Herbert Wehners hält, macht sich damit stilistisch zum Akteur von gestern oder vorgestern. Das kann er bewusst so tun, jedoch ist dies nicht in jedem Falle vorteilhaft.

Die Jugend mag nicht mehr so sein, wie sie früher einmal war, aber sie dennoch - und gerade deshalb - die Jugend. Dasselbe gilt für die Rhetorik. Das Ende der Rhetorik und der Tod der Redekultur, welche bei jedem bemerkbaren Stilwandel in der politischen Redepraxis mit schöner Vorhersagbarkeit ausgerufen werden, sind noch lange nicht gekommen. Die Rhetoriker suchen sich nur in jedem Jahrzehnt andere Werkzeuge um zu wirken und betreiben dennoch - und gerade deshalb - Rhetorik.

Was ist eigentlich mit dem "Spiegel"? "Der Spiegel" ist immer noch, was er früher einmal war. Der Spiegel ist eben der Spiegel ist der Spiegel ist der Spiegel... Vielleicht sieht die Zeitschrift gerade deshalb in jedem Schritt, den sich die politische Redepraxis weiter von Stil und Gestus von "Herbert Wehner - Rainer Barzel - Willy Brandt - Franz-Josef Strauß - Helmut Schmidt - Otto Graf Lambsdorff" entfernt eine Verfallserscheinung anstelle einer Stilentwicklung.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Der "Spiegel" mag ja immer noch sein, was er war, nämlich ein Magazin,
aber er ist schon lange nicht mehr wie er einmal war, weder in Wort noch in Bild.

Rhetoriker hat gesagt…

ok, das kommt jetzt ein bisschen darauf an, auf welches Jahr man ungefähr "einmal" datiert; vielleicht haben wir da unterschiedliche datierungen. :-) "heute" jedenfalls ist der spiegel ein magazin, das öffentlich den zeiten von herbert wehner und helmut schmidt nachtrauert und auch ansonsten meinungsmäßig meistens nicht unbedingt die stimme der "jungen vordenker" repräsentiert, sondern relativ oft eher die stimme der leidernichtmehrganzsojungen 68er.

p.s. natürlich lese ich trotzdem brav jede woche den spiegel, um da keinen falschen eindruck zu erwecken. :-)